Herausforderndes Verhalten: Selbstverteidigung für Pflegekräfte

Klare (Hand-)Kante gegen Gewalt in der Pflege

Andrea Haeusler bringt Pflegekräften Selbstverteidigung bei. (Foto: Privat)

„Bis hierher und nicht weiter“ – durch Übungen zu Nähe und Distanz erfahren Pflegekräfte in Selbstverteidigungstrainings ihre eigenen Grenzen. Und lernen, Anderen diese Grenzen zu setzen. Ohne dass Schläge hageln.

„Gewalt in der Pflege ist immer noch Tabuthema“, erklärt Andrea Haeusler, Leiterin der Karateschule Fuji San Münster. Die hauptberufliche Versicherungsangestellte ist seit 20 Jahren Karatelehrerin. In Kooperation mit dem Arbeitsamt Ahlen und dem Bildungsinstitut Münster bietet sie seit zwei Jahren Selbstverteidigungskurse an für Pflegekräfte und Demenzbegleiter. In den Trainings beantwortet sie Pflegekräften zwei wichtige Fragen: Wie reagiere ich auf herausforderndes Verhalten? Und: Wie gehe ich mit sexueller Belästigung um?

Klares Konzept gegen Gewalt

Haeuslers Training zielt darauf ab, dass Pflegekräfte Warnzeichen früher wahrnehmen und Gefahrensituationen richtig einschätzen. Das Verteidigungskonzept basiert auf drei Schritten:

  • Deeskalation: Mit viel Wertschätzung auf den Pflegebedürftigen einreden, ihn sanft berühren und dadurch beruhigen.
  • Abgrenzung: Ist dies nicht mehr möglich, müssen klare Grenzen gesetzt werden. Über Stimme und Körpersprache strahlt die Pflegekraft Dominanz aus. Die Botschaft: Leg dich nicht mit mir an!
  • Selbstverteidigung: Findet ein Übergriff statt, müssen Pflegekräfte fähig sein, sich selbst zu schützen. Wichtig ist in diesem Fall immer die Verhältnismäßigkeit. Die Kampfsporttrainerin bringt den Pflegekräften daher Selbstverteidigungstechniken bei, die Konflikte schnell und möglichst schmerzfrei beenden. Wichtig sind Techniken, mit denen man sich aus Würgegriffen und Umklammerung befreit.

„Als ich gefragt wurde, ob ich Selbstverteidigungskurse für Demenzbegleiter geben kann, habe ich das zuerst völlig falsch verstanden“, erzählt die Trägerin des 3. Dan lachend, „ich dachte, ich soll Menschen mit Demenz Karate beibringen“. Heute ist die dreifache Mutter dank Fort- und Weiterbildungen Expertin für gewaltlosen Widerstand bei Schutzbefohlenen. Sie absolvierte 2013 eine Fortbildung zu Gewaltprävention und Deeskalation. Und schloss 2015 eine Ausbildung zur Fachpädagogin für Krisenmanagement und Konfliktkommunikation erfolgreich ab.

Eigensicherung statt Selbstverteidigung

„Im Grunde“, erläutert die 47-Jährige, „bringe ich Pflegekräften nicht Selbstverteidigung, sondern Eigenschutz bei. Ich helfe gefährliche Situationen zu entschärfen“. Zu Beginn der Kurse berichten Teilnehmer von eigenen Erfahrungen mit Gewalt in der Pflege. „Oft ähneln sich die Szenarien“, berichtet sie, „ich erkläre dann anhand der Praxisbeispiele, wie sich solche Situationen in Zukunft vermeiden lassen“

Gewaltprävention durch Wissen und Empathie

Haeusler erklärt Pflegekräften, wie man sich aus Würgegriffen und Umklammerung löst. (Foto: Privat)

Die wichtigste Frage lautet: Was ist der Auslöser für herausforderndes Verhalten? Wissen und Empathie sind Schlüssel zu erfolgreicher Gewaltprävention. Statistisch ereignen sich Übergriffe meistens in der Mittagszeit. Wenn Bewohner hungrig sind. Wenn nicht Hunger, Durst oder Orientierungslosigkeit Auslöser für Gewalt sind, finden sich häufig Hinweise in biographischen Details. „Mir ist der Fall eines Professors bekannt“, erzählt Haeusler, „ der es gewohnt war, bis spät in die Nacht zu arbeiten. Als er im Pflegeheim plötzlich um sechs Uhr morgens aufstehen musste, wurde er aggressiv.“ Biographiearbeit und Befriedigung individueller Bedürfnisse helfen Konfliktsituationen zu vermeiden. Das Pflegepersonal ließ den Mann länger schlafen. Und reichte ihm das Frühstück später. Daraufhin verhielt sich dieser friedlich.

Sexuelle Belästigung auf der Station

Sexuelle Belästigung kann von Bewohnern ausgehen. Aber ebenso von Kollegen oder sogar vom Chef. Auch in solchen Situationen ist Wissen Macht. Wissen um die eigenen Grenzen. Und die Vorgaben des Gesetzgebers. Da zitiert das Karateass schon mal das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Frei nach dem Motto: Schlage deinem Belästiger das Gesetzbuch um die Ohren, bevor die Fäuste fliegen.

Selbstverteidigung für die Straße

Aber Haeusler bringt den Pflegekräften auch effektive Nahkampftechniken bei – Selbstverteidigung für die Straße. Für den Notfall. „Die Gefahr endet nicht mit dem Arbeitstag“, stellt die Gewaltschutztrainerin trocken fest, „jede Pflegekraft hat auch einen Nachhauseweg“.