Pflege allein zu Haus: Rückzug als Selbstschutz

Warum pflegende Angehörige Probleme haben, soziale Kontakte zu wahren

Vorsicht vor Vereinsamung: Gerade in der Anfangszeit fällt pflegenden Angehörigen schwer, soziale Kontakte aufrecht zu halten. (Foto: Fotolia)

Pflegende Angehörige und chronisch Kranke neigen dazu, sich zurückzuziehen. Manche brauchen Zeit, die neue Situation zu verarbeiten. Andere ertragen das Mitleid von Freunden und Familie nicht. Unsere Pflegebibel-Kolumnistin Wiebke Worm beschreibt, wie sie auf die Diagnose ihres Mannes reagiert hat.

„Du ziehst dich ja immer zurück?!?“, ist ein Satz, den jeder Pflegende kennt. Auch Langzeit-Kranke dürfen sich diesen oder ähnliche Vorwürfe anhören. Als ich zum ersten Mal so angesprochen wurde, war ich erstaunt und traurig, denn der Kommentar wirkte vorwurfsvoll. Ich wollte mich rechtfertigen. Mir schossen viele mögliche Antworten durch den Kopf: Von „Was weißt du denn“ über „Das würdest du genauso machen“ bis „Ach Quatsch“. Dann dachte ich an die letzten Wochen und Monate zurück. Hatte ich mich wirklich von Freunden und Familie abgewandt?!

Rückzug, um mich zu schützen

Meine Antwort an mich selbst lautete: „Ja, stimmt, aber der kurze Rückzug war für mich lebensnotwendig.“ Als mein Mann die niederschmetternde Diagnose Multiple Sklerose bekam, mussten wir das erst einmal verarbeiten. Sonst bin ich ein kommunikativer Mensch, aber in dieser Situation habe ich auf Rückzug geschaltet.

Mitleid und Sensationsgier

Ich war es leid, das Mitleid in den Augen derjenigen zu sehen, die sich mit uns unterhielten. Ich konnte ihre besorgten Fragen nach der Gesundheit meines Mannes und wie es mir geht, nicht mehr ertragen. Egal, ob sie aus Mitgefühl fragten oder aus Sensationsgier. Ja, auch das habe ich erlebt. Manchen konnte ich es an der Nasenspitze ansehen, wie sie innerlich jubilierten: „Zum Glück hat es nicht mich erwischt“. Ich wollte nicht mehr losheulen, wenn mich Familie, Freunde oder Bekannte auf unsere „schlimme Situation“ ansprachen. Es gab eine Zeit, da hat schon ein „wie geht es Dir/Ihnen?“ gereicht und die Tränen liefen.

Unser Weg

Bei Festen absagen zu müssen, mitzuerleben, wie gute Freunde immer weniger Verständnis zeigten, das hat wehgetan. Als dann die Einladungen ausblieben, war ich hin- und hergerissen zwischen Erleichterung und Trauer. Immerhin mussten wir uns nicht mehr den Kopf zerbrechen, wie wir absagen, oder die Reaktionen aushalten. Doch es machte mich traurig, nicht dabei sein zu können. Nicht mehr dazu zu gehören.

Trotzdem: Rückzug als Selbstschutz, uns auf uns selbst zu besinnen und zu schauen wie es weitergeht – das war unser Weg.

Neuer Alltag

Irgendwann waren wir in das neue Leben hineingewachsen. Hatten die notwendige Kraft gesammelt und waren bereit, die angelehnten Türen und Fenster wieder zu öffnen. Aber nur noch Wenige warteten davor.

Freunde im Netz

Was mir damals wirklich geholfen hat, war der Austausch mit anderen pflegenden Angehörigen. Ich fand ein Online-Forum, in dem ich mich wohl fühlte. Dort waren andere Angehörige, die wussten, wie es mir ging, weil sie ähnliches durchgemacht haben. Das Forum habe ich irgendwann verlassen. Für diese Community war ich zu kommunikativ – was für eine Ironie.  Ich habe dann mit anderen pflegenden Angehörigen eine eigene Facebook-Gruppe eröffnet. Heute möchte ich das Soziale Netzwerk nicht mehr missen. Durch die Krankheit meines Mannes habe ich Facebook schätzen gelernt. Es gibt dort wirklich tolle Gruppen, in denen sich Angehörige vernetzen.

Geteiltes Leid…

Sofern Sie noch mitten im Rückzug stecken sollten: Denken Sie über Gespräche mit anderen Angehörigen nach. Sie sind nicht allein. Glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage: Andere haben dasselbe oder vergleichbares durchgemacht wie Sie, oder stecken selbst mittendrin. Unsere geteilten Erfahrungen verbinden uns. Deshalb kommunizieren wir untereinander mit anderem Verständnis füreinander.

…ist halbes Leid

Jetzt wissen Sie wie es mir ergangen ist. Für mich war im Nachhinein übrigens spannend, wer mir meinen Rückzug zum Vorwurf machte und wer Verständnis zeigte. Aber das wird eine gesonderte Kolumne werden.

Haben Sie ähnliche Erfahrungen gemacht? Haben Sie sich zurückgezogen? Wurden Sie darauf angesprochen? Wie haben Sie wieder ins Leben gefunden?
Ich freue mich, auch diesmal auf ihre Rückmeldungen in den Kommentaren und möchte mich für Ihr Interesse an meiner Kolumne bedanken.

Ihre
Wiebke Worm

Über Wiebke Worm

Wiebke Worm schreibt die Pflegebibel-Kolumne Pflege allein zu Haus. Die Buchautorin, Illustratorin und Fotografin pflegt ihren MS-kranken Mann. Gemeinsam mit Betroffenen und anderen pflegenden Angehörigen hat die ehemalige Crew-Managerin den Sammelband Wir bauen eine Brücke herausgegeben. Über ihre Facebook-Seite Wir pflegen unsere Lieben betreut sie die Aktion Herzensangelegenheiten, die Aufmerksamkeit für die Lebensumstände pflegender Angehöriger schaffen soll. Bei uns schreibt die Autorin über ihren Pflegealltag und gibt nützliche Tipps für pflegende Angehörige und Betroffene.

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