Tetraplegie – „Mein Wesen ist unverändert“

Im Tetrateam treffen sich Tetraplegiker, die Handbike fahren

Den Tetraplegiker Jürgen Winkler treibt es mit seinem Handbiker auch in die Berge. Foto: privat

Jürgen Winkler bietet Motivationstrainings an: „Gegenüber Fußgängern habe ich den Vorteil, dass ich glaubhaft machen kann: Akzeptiert den Zustand und macht das Beste daraus“. Der 33-Jährige sitzt wegen eines Badeunfalls seit zwölf Jahren im Rollstuhl. Damals brach er sich den fünften und sechsten Halswirbel und kann selbst seine Finger nicht mehr bewegen. Bereits im Krankenhaus hatte der Schreinergeselle jedoch eine Liste im Kopf: Auto fahren, neuer Job und alleine leben.

Von allen etwas lernen

„Ich habe mir von allen etwas abgeschaut“, erzählt der bayerische Schwabe. Los ging es schon in der Klink mit dem Anziehen, das inzwischen nur noch 20 Minuten dauert. Der Austausch mit anderen Betroffenen ist für ihn das wichtigste. Denn ohne Gleichgesinnte und Vorbilder, wäre er nicht da, wo er jetzt sei. Seine Liste hat er umgesetzt. Trotzdem sei es toll, dass Familie und Freude da seien. Denn für handwerkliche Tätigkeiten oder Fenster putzen ist er natürlich auf fremde Hilfe angewiesen.

„Mein Wesen hat sich nicht verändert.“

Auch Torsten Schiller hat seine Tetraplegie „schnell und relativ gut weggesteckt“ und richtete bereits in der Klinik den Blick nach vorne. Schrittweise von Erfolg zu Erfolg gehen, ist seine Devise: Das bedeutete etwa, zunächst auf einem Stuhl sitzen können, dann sich wieder selbst anziehen können. In den 15 Jahren seines Rolli-Lebens hat er sich so viel angeeignet, dass auch er komplett alleine leben kann. Alle zwei Wochen holt er seine Töchter vom Kindergarten ab. Sie kennen ihn nicht anders als im Rollstuhl: Deshalb springen sie auf ihm herum und schieben ihn durch die Gegend. Stolz ist der Leipziger, dass sie sich auch gegenüber anderen Behinderten völlig unvoreingenommen verhalten.

Fußgänger nerven, wenn sie Rollis nicht für voll nehmen

Was der 38-Jährige gar nicht abkann, sind Fußgänger, die meinen, sie müssten ihm alles mundgerecht liefern. Natürlich freut er sich, wenn man ihm die Tür aufhält. Aber nicht aus Mitleid. Spätestens wenn er Hilfe dankend ablehnt und die Menschen eingeschnappt reagieren, merkt er aus welcher Motivation das Angebot kam. Auch auf den Magen schlug ihm kürzlich eine Situation in einem Laden. Er fragte die Verkäuferin etwas, die sprach zwar kurz zu ihm, führte das Gespräch aber dann ausschließlich mit seiner Freundin weiter. „Meine Möglichkeiten sind anders, aber mein Wesen hat sich nicht verändert“, sagt Jürgen Winkler dazu.

Bewegung hat Torsten Schiller geholfen: Zunächst Rollstuhl-Rugby, dann Tanzen mit seiner Partnerin und Freundin und seit letztem Jahr das Handbiken. Pro Woche war er in diesem Jahr drei- bis viermal bis zu drei Stunden unterwegs. Da kamen durchschnittlich 50 Kilometer zusammen. Im kommenden Jahr will er mit einem professionellen Trainer vom Leistungszentrum Cottbus richtig einsteigen. Viele Informationen und Tipps hat er vom Tetrateam bekommen.

Austausch im Tetrateam

Als Motivationstrainer und Seminarleiter hält Jürgen Winkler in der Balance. Foto: privat

Das haben Jürgen Winkler und Bernd Jost 2009 gegründet. Denn bei vielen Rennen hieß es, Tetraplegiker können auf Grund ihrer hohen Lähmung nicht Handbike fahren und dementsprechend nicht teilnehmen. Pustekuchen – Winkler und Jost haben an den größten und längsten Rennen teilgenommen und in ihrer Schadensklasse öfters gewonnen. Winkler ist sogar Weltrekordler über die Marathondistanz mit 1:36 Stunden. Ihre Idee: Wir wollen mehr Tretaplegiker fürs Handbike gewinnen. 23 Mitglieder hat der gemeinnützige Verein deutschlandweit, die sich über Facebook oder Email austauschen und sich mittlerweile mehrmals jährlich treffen.
Natürlich geht es viel um das Handbike und den Sport. Denn durch die hohe Lähmung ist auch das vegetative Nervensystem eingeschränkt. So schwitzen Tetraplegiker trotz Höchstleistung nicht, damit versagt die natürliche körperliche Kühlung. „Ab 20 Grad hilft nur regelmäßig Wasser über den Kopf“, lacht Winkler. Sein höchstmöglicher Puls sind 112 Schläge pro Minute, dadurch werden Sauerstoff und Verbrennungsstoffe nicht wie üblich in die Muskeln transportiert. Spitzensportler kommen locker auf 180 und mehr Schläge bei Extrembelastungen.

Tetraplegiker können sich nicht allein auf den Staat verlassen

Die Treffen des Tetrateams dienen auch dem Gespräch über den Alltag. Wie sieht dein Auto aus? Wie löst du dieses Problem? Was machst du beruflich? Zwar bekommen Winkler und Schiller eine Erwerbsunfähigkeitsrente. Doch ohne Arbeit droht Hartz IV. Also arbeitet der Leipziger im Vertrieb eines Traktorenherstellers und Winkler ist nach seiner Kündigung vor wenigen Tagen als Berater für Medizinprodukte komplett selbstständig: als Schulungsleiter, Dozent und eben als Motivationstrainer.


Jens Gieseler ist Kommunikationsberater, Journalist und Heilpraktiker für Psychotherapie. In den letzten beiden Lebensjahren war sein Vater pflegebedürftig. Deshalb hat er sich mit der Pflegebürokratie herumschlagen müssen und viel Sensibilität für das Altern und Sterben entwickelt. Erkenntnis: Beziehungen werden immer wichtiger.