Zu Besuch im Hospiz II: Das Leben geht weiter

Im Stuttgarter Hospiz ist der Tod präsent – das Leben auch

Viele Menschen fürchten nicht den Tod, sondern das Sterben, die Schmerzen und das Alleinsein (Foto: Fotolia)

Das Leben geht weiter. Die Seelsorgerin des Stuttgarter Hospizes hat mich nachmittags nach meinem Eindruck vom Tag gefragt. Über meine spontane Antwort bin ich selbst perplex und muss in den Tagen danach oft darüber nachdenken.

Heitere und schwere Momente

Doch, es liegt keine lähmende Trauer über dem Haus. Das Leben geht für die Sterbenden bis zum letzten Atemzug weiter – mit Höhen und Tiefen, mit Lachen und Trauer. Der ALS-Patient Herr Müller (die Namen aller Patienten sind geändert) malt mit großer körperlicher Mühe an seinem Bild weiter, ganz fein sind die Striche an der Vogelfeder. Dann sagt er etwas, was auch nach mehreren Anläufen weder die Kunsttherapeutin noch ich verstehen. Es dauert, ehe der Sprachcomputer aufgebaut und kalibriert ist, mit den Augen tippt er dann die Buchstaben ein. Ah, die Zimmertür soll zu, die Badezimmertür auch. „Und nun?“, schreibt er weiter. Wir lachen über seine feine Ironie. In solchen Momenten scheint mir, dass es kein Sterben gibt.

Anders Herr Miles, der am Tag zuvor ins Hospiz kam: Beim Frühstück redet er wenig und sehr leise. Seine Gedanken springen. Was er essen will, kann er nicht entscheiden. Marie-Luise Härter hilft ihm. Später schiebe ich ihn mit einem Rollstuhl in den Garten und ich bekomme das Gefühl, dass der große, kräftige Mann regelrecht unter Schock steht. Er kann wohl noch gar nicht begreifen, was mit ihm passiert. Das Krankenhaus hat ihn mit der Diagnose Magenkarzinom entlassen, erste Metastasen haben sich in der Leber gebildet. Zurück nach Hause kann er nicht, denn auch seine Frau ist schwer krank. Wie soll es einem Menschen wie ihm anders gehen, als verwirrt, desorientiert und depressiv? Im Laufe des Tages lösen sich langsam die Knoten in seinem Kopf und in seiner Seele. Er redet mit dem Hausarzt, der zwei Mal pro Woche ins Haus kommt und jederzeit erreichbar ist, er redet mit einer ehrenamtlichen Helferin, die ihn schon im Krankenhaus begleitet hat. Am Nachmittag kommt seine FrauTränen fließen. Das hilft, zumindest für diesen Moment.

Schmerz individuell lindern

Für Frau Scheiterle ist ihr christlicher Glaube ein beruhigender Anker: „Der Herr Gott hat für mich eine bestimmte Zeit vorgesehen.“ Zweifel kommen der Schwäbin trotzdem hin und wieder, wenn der Körper schmerzt und sie sich nicht mit Gott verbunden fühlt. Dann singt sie oder spielt Flöte und ihr Vertrauen wächst wieder. Viele Menschen fürchten nicht den Tod, sondern das Sterben, die Schmerzen und das Alleinsein. „In puncto Schmerztherapie sind wir medizinisch auf einem hohen Stand“, sagt die stellvertretende Pflegedienstleiterin Ingeborg Burkhard über das eigene Haus. Schmerz kann sehr vielfältig sein, deshalb entwickeln die Ärzte und Pflegerinnen einen passenden Bedarfsplan für jeden Gast und seinen individuellen Schmerz. Wenn es sein muss, gehört auch Morphin dazu. „Zwei, drei Tage sind die Betroffenen eventuell durcheinander“, weiß Ingeborg Burkard, „doch der Kopf bleibt klar.“ Ohnehin gehe es immer um den ganzen Menschen, und soziale Kontakte können das Schmerzerleben verändern.

Große menschliche Nähe am Ende des Lebens

Im Hospiz entwickelt sich eine häusliche Gemeinschaft – weniger zwischen den Patienten als zum Pflegepersonal. Zudem sind Angehörige jederzeit eingeladen. Seit knapp zwanzig Jahre kämpft eine Mutter mit ihrem Hirntumor. Sie hat durchgehalten und ihre beiden Söhnen groß gezogen. Jetzt kann sie ihr Bett nicht mehr verlassen. Ihre Eltern besuchen sie samt Kurzhaardackel schon morgens. Erst muss der Vater wieder zur Arbeit, dann fährt auch ihre Mutter. Im Stockwerk tiefer räuchern ein Mann und eine Frau das Zimmer ihrer Freundin während einem kleinen Ritual mit Salbei. Die Frau ist aus Argentinien angereist und bleibt länger.

Die Tochter von Frau Adamczik hat ihre Mutter in der Nacht bis zu ihrem Tod begleitet. Bevor die Bestatter kommen, bieten die Mitarbeiter an, den Toten mit einer viertelstündigen Trauerfeier zu verabschieden. Die Angehörigen nehmen das Angebot gerne an, denn in den Tagen und Wochen zuvor haben sie sich zu einem Begleiterteam entwickelt, sind sich persönlich sehr nahe gekommen. Jetzt steht die Tochter mit ihrem Lebenspartner und vier Freundinnen am Bett ihrer Mutter und sagt: „Sie hat es in dieser Generation schwer gehabt und hat mir alle Möglichkeiten gegeben, mich zu entwickeln.“ Auch ich stelle eine Kerze auf das Bett von Frau Adamzcik und denke mir: Etwas Schöneres als die Tochter gesagt hat, kann man über einen Mensch nicht sagen.


Jens Gieseler ist Kommunikationsberater, Journalist und Heilpraktiker für Psychotherapie. In den letzten beiden Lebensjahren war sein Vater pflegebedürftig. Deshalb hat er sich mit der Pflegebürokratie herumschlagen müssen und viel Sensibilität für das Altern und Sterben entwickelt. Erkenntnis: Beziehungen werden immer wichtiger.