Gewalt in der Pflege

Überforderte Pflegekräfte werden schneller aggressiv

Gewalt in der Pflege ist ein bekanntes Phänomen.
Die Dunkelziffer ist riesig: Viele Pflegende werden ihren Schützlingen gegenüber gewalttätig. Nicht immer schlagen die Täter zu. Auch verbale Misshandlung, Vernachlässigung oder medikamentöser Ruhigstellung sind Formen von Gewalt in der Pflege. (Foto: Fotolia)

Franziska Andratsch untersucht, warum es zu Gewalt in der Pflege kommt und wie Situationen mit Gewaltpotential entstehen, erkannt und entschärft werden können. Im Interview teilt die Autorin des Buches „Gewalt in der Pflege“ ihre Forschungskenntnisse.

Warum werden Pflegekräfte gewalttätig?

Letztlich sind Pflegekräfte auch nur Menschen. Sie bringen private Probleme wie Ehekrisen oder schlechte Noten der Kinder mit zur Arbeit. Möglicherweise belastet sie ein schlechtes Betriebsklima, sie fühlen sich von ihren Vorgesetzten nicht wertgeschätzt oder sind dauergestresst. Darunter leidet die Qualität ihrer Pflege. Und in Extremfällen lassen sie ihren Frust dann an Pflegebedürftigen aus.

Gibt es bestimmte Gruppen unter Pflegenden, die eher übergriffig werden als andere?

Es ist uns nicht gelungen, ein Täterprofil herauszuarbeiten. Im Pflegeskandal von Lainz  galten alle vier Täterinnen als motivierte Mitarbeiterinnen. Keine der Vier war psychisch krank. Auch sonst teilten sie keine Gemeinsamkeiten, anhand derer sich festmachen ließe: Diese oder jene Gruppe innerhalb der Pflegekräfte neigt eher zu Gewalt als andere.

Wer sind die Opfer von Gewalt in der Pflege?

Häufig sind die Opfer aufwändig zu pflegen. Weil sie besonders alt, schwerkrank oder störrisch sind. Die Beziehung zwischen Pflegekraft und Pflegebedürftigen ist sehr intim. Da staut sich auf beiden Seiten schnell Frust auf. Eskaliert die Situation, sind Pflegebedürftige hilflos ausgeliefert. Betroffene können sich nicht wehren, teilweise nicht einmal Hilfe suchen. Die Täter müssen also nicht unmittelbar mit Strafen rechnen. Dadurch sinkt die Hemmschwelle.

Was können Heimmanager tun, um Gewalt in der Pflege zu verhindern?

Pflege verlangt jedem viel ab. Zu wenig Personal, Konflikte im Team, schwierige Patienten oder Bewohner – das schlaucht. Überforderte Pflegekräfte werden schneller aggressiv. Deshalb ist es wichtig, dass Pflegende von Zeit zu Zeit Abstand gewinnen. Heimmanager sind gefordert, für eine gute Balance und genügend Freizeitausgleich zu sorgen.

Sie sprachen vom Betriebsklima…

Fürs Betriebsklima ist es wichtig, dass die Belegschaft konstruktiv mit Konflikten umgehen lernt. Und offen über Probleme spricht. Dazu muss ein Klima herrschen, in welchem Fehler passieren „dürfen“ und aus Fehlern gelernt wird.

Was können Pflegekräfte tun?

Pflegekräfte dürfen nicht unterschätzen, wie belastend Pflege sein kann. Sie sind im Berufsalltag ständig mit Alter, Tod, Krankheit oder Leid konfrontiert. Klar gehört das zum Job. Trotzdem sollten sie Angebote einfordern und nutzen, in denen sie erschütternde Ereignisse aufarbeiten. Regelmäßige Supervisionen schaffen Räume, in denen Pflegekräfte eigenes Verhalten reflektieren, geschehene Konfliktsituationen analysieren oder Probleme ansprechen können.

Was können Pflegende tun, die merken „Ich werde aggressiv meinem Schützling gegenüber“?

Wichtig ist, dass Pflegekräfte Gewalt als solche überhaupt erkennen. Sie müssen sich in Achtsamkeit üben und genau hinschauen. Dazu gehört, dass geschehene Vorfälle protokolliert und Auffälligkeiten nachgegangen werden. Anstatt diese zu ignorieren.

Gibt es Deeskalationsstrategien speziell für Pflegende, die sich als effektiv erwiesen haben?

Bei herausforderndem Verhalten müssen Pflegekräfte professionell bleiben. Manchmal hilft es, den Raum kurzzeitig zu verlassen. Um sich zu beruhigen und durchzuatmen. Wenn Pflegekräfte das Zimmer dann wieder betreten, müssen sie über Stimme, Mimik und Gestik vermitteln: Mit mir nicht! Solches Verhalten hat hier keinen Platz. Oft reicht das schon aus, um die akute Situation zu entschärfen.

Und dann?

Im nächsten Schritt sollten sich Pflegekräfte fragen: Was steckt hinter dem Verhalten meines Schützlings? Vielleicht hat er Hunger, fühlt sich allein gelassen oder der Tagesablauf in der Pflegeeinrichtung läuft seinem gewohnten Rhythmus zuwider. Ein gewisses Fingerspitzengefühl und Biographiearbeit helfen dabei, unbefriedigte Bedürfnisse zu erkennen, die herausforderndes Verhalten auslösen.

Was ist, wenn sich die betroffene Pflegekraft nicht sicher oder überfordert fühlt?

Besonders belastende Tätigkeiten sollten mitunter gemeinsam verrichtet werden. Damit reduziert sich einerseits die Kontaktzeit zum pflegebedürftigen Menschen. Andererseits fühlen sich Pflegende zu zweit nicht völlig hilflos und allein in schwierigen Situationen. Ich denke etwa an die Reinigung eines mit Kot beschmierten Mundes.

Wie können sich Pflegebedürftige wehren, sollten sie Opfer von Gewalt werden?

Wichtig ist, dass es Personen gibt, denen Betroffene sich anvertrauen können. Etwa Angehörige, Pflegende oder Ärzte. Gehen Krankhaus- oder Einrichtungsleitungen den Vorwürfen nach, müssen sie unbedingt diskret handeln. Damit das Opfer nicht darunter leidet. Weitere Ansprechpartner können der jeweilige Heim-bzw. Krankenhausträger sowie Aufsichtsbehörden sein. Eine darüberhinausgehende Anlaufstelle ist die Patientenanwaltschaft.

Hintergrundinfos

Franziska Andratsch (Foto: AlexStadler.at)

Franziska Andratsch arbeitet seit zwei Jahren am Institut für Pflegewissenschaft und -praxis der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität Salzburg. Bereits während ihres Studiums der Rechtswissenschaften am Juridicum in Wien hat sich die 32-Jährige mit verschiedenen Fragen des Medizinrechtes beschäftigt. 2015 ist ihr Buch „Gewalt in der Pflege“ erschienen. Gemeinsam mit Jürgen Osterbrink untersuchte sie darin die Frage nach tieferen Ursachen und Hintergründen von Gewalthandlungen sowie mögliche Motive der Täter. Das Buch will außerdem aufzeigen, wie professionelle Pflege ein taugliches Mittel sein kann, um Gewaltvorkommnisse in der Pflege zukünftig einzudämmen.