Der kleine Schneemann

Der kleine Schneemann von Wiebke Worm

Illustration: Fotolia

Auch wenn der Schnee noch auf sich warten lässt – die Geschichte von Mark und dem kleinen Schneemann Hubert eignet sich wunderbar, um sie an kalten Winterabenden warm eingemummelt vorzulesen. Wir empfehlen dazu: Eine warme Tasse Kakao mit Marshmallows! 

Mark starrte aus dem Fenster. Viel mehr konnte er nicht machen. Laufen durfte er nicht, weil er in einem Liegegips in lag. Diese Unbeweglichkeit machte ihn verrückt. Er seufzte. Sicher, die Ärztin hatte ihm heute gesagt, dass er voraussichtlich Weihnachten zu Hause sein würde, wenn alles gut weiter verheilt. Es waren nur noch drei Tage, aber das schien ihm noch unendlich weit weg.

Es hatte angefangen zu schneien. Mark stellte sich vor, wie er jetzt mit den anderen Kindern Schlitten fahren würde, oder eine Schneeballschlacht anfangen. Aber das ging ja nicht. Die Anderen waren da draußen, er lag hier. So verging eine weitere Stunde und Mark wurde immer trauriger. Als Schwester Claudia in sein Zimmer kam, wischte er sich schnell mit dem Ärmel die Tränen weg.

»Hallo Mark, hast du gesehen, dass es schneit? Vielleicht bekommen wir ja doch noch weiße Weihnachten.«

Claudia plapperte fröhlich weiter, wie es so ihre Art war und verrichtete dabei ihre gewohnten Handgriffe. Plötzlich stockte sie mitten im Satz und schaute ihn an.

»Mark, ist alles in Ordnung, hast du geweint?«

Er schüttelte verneinend seinen Kopf und drehte ihn dann zur Seite, damit Claudia ihn nicht mehr direkt anschauen konnte.

»Schau mich mal bitte an, kleiner Mann.«

Mit diesen Worten drehte die junge Krankenschwester sein Gesicht sanft zu sich hin. Verlegen und mit rotgeweinten Augen sah Mark sie an.

»Was ist denn los? Hast du Schmerzen?«

Mark schüttelte erneut den Kopf.

»Was ist es dann? Komm, rede mit mir, bitte.«

»Es schneit und ich kann nicht raus! Ich will so gerne Schlitten fahren oder einen Schneemann bauen.«

Und wieder liefen die Tränen. Claudia tupfte diese sanft mit einem Tuch weg.

»Schau mal, so viel Schnee ist es ja noch gar nicht. Es kann noch niemand Schlitten fahren oder einen Schneemann bauen. Und sollte es mehr werden, bringe ich dir einfach welchen. Was meinst du dazu?«

Mark schaute sie mit großen Augen an. »Hier her?«

»Ja klar«, kicherte Claudia, »ich schummle den Schnee an der Oberschwester vorbei und schwups bauen wir dir einen eigenen kleinen Schneemann. Und sollte die Oberschwester etwas merken, seife ich sie einfach ein«

Jetzt musste auch Mark kichern, die Vorstellung, dass Claudia die Angst erregende Oberschwester einseifte, war aber auch zu komisch. Trotzdem kamen ihm Zweifel.

So sehr er Claudia heimlich verehrte und ihr viel zutraute, hier war er sich wirklich nicht sicher.

»Darfst du das denn, oder bekommst du eine Strafe? Und schmilzt der Schnee dann nicht weg?«

Die Fragen stürmten auf die junge Schwester ein.

»Ich bekomme das schon hin, mach dir keine Sorgen. Aber erstmal muss es sowieso noch viel mehr schneien. So, jetzt muss ich weitermachen. Kopf hoch, kleiner Mann und bald ist Weihnachten und dann bist du sowieso zu Hause, da ist all das hier vergessen.«

Schwester Claudia streichelte noch einmal über seine Wange, und ging zur Tür.

»Schwester Claudia?«

»Ja?«

»Wann wird denn endlich das andere Bett belegt?«

Mark war zwar schon zehn ein halb und damit eigentlich schon groß, wie jeder ihm sagte, aber er schlief nicht gerne allein. Es graute ihm sogar davor, auch wenn er dies niemanden sagen würde. Seitdem Matze nach Hause gedurft hatte, lag er allein in dem großen Zimmer und grauste sich Nacht für Nacht. Wenn die Nachtschwestern hereinkamen, tat er so, als ob er schlief.

»Ich glaube morgen kommt ein kleiner Junge, so ist es zumindest geplant. Jetzt schlafe gut und mach dir nicht so viele Gedanken.«

Mit diesen Worten verschwand Claudia und Mark war wieder allein.

Es schneite noch immer. Am nächsten Morgen leuchtete es hell in seinen Raum. Auf der Fensterbank türmte sich der Schnee und Mark wäre am liebsten aufgesprungen. Der blöde Gips hielt ihn jedoch zurück. Der Tag zog sich für ihn wie Kaugummi und er schaute immer wieder zur Tür, ob nicht endlich der angekündigte Junge käme. Nichts.

Am Nachmittag kam sein Vater vorbei und grüßte ihn von seiner Mutter, die mit einer Grippe im Bett lag und deshalb seit einigen Tagen schon nicht mehr vorbeigekommen war. Sein Vater tätschelte ihm etwas unbeholfen den Kopf und sagte: »Wie gut, dass du unser Großer bist. Da brauchen wir uns ja keine Sorgen zu machen.«

Mark nickte tapfer und schluckte.

»Mami ruft dich nachher noch an, versprochen. Als ich ging hatte sie nur fast keine Stimme mehr, sonst fühlte sie sich etwas besser. Hoffen wir mal, dass wir alle am Heiligen Abend wieder gesund sind und ein schönes Fest feiern können.«

»Hat denn der Weihnachtsmann meinen Brief bekommen?«

Eigentlich glaubte Mark nicht mehr so richtig an den weißhaarigen Mann im roten Umhang, aber sicher war sicher, so hatte er, wie auch in all den Jahren zuvor, einen Brief geschrieben.

»Aber sicher doch, ich habe ihn persönlich abgegeben,« antwortete sein Vater.

»Ich muss jetzt auch los, werde Mama von dir grüßen und komme morgen wieder. Okay? Es sind ja jetzt nicht mehr viele Tage bis Weihnachten, dann bist du wieder bei uns. Sei weiterhin so tapfer.«

Kurze Zeit später war Mark wieder allein. Schwester Claudia öffnete die Tür und schaute geheimnisvoll in den Raum.

»Mark«, flüsterte sie. »Der andere Junge kommt doch noch nicht, aber ich habe etwas für dich. Bringe es gleich vorbei.«

Die Tür ging wieder zu. Eine freudige Erwartung erfüllte Mark. Gespannt wartete auf ihre Rückkehr. Endlich. Die Tür wurde mit einem Schubs geöffnet und Claudia kam herein. Sie hielt eine Kühltasche fest umklammert und kam an sein Bett. »Schau, was ich hier habe«, strahlte sie ihn an und öffnete die Tasche. Ein kleiner Schneemann stand auf einem Teller und lachte ihn an.

»Das ist Hubert, der kleine Schneemann. Hubert, das hier ist Mark.«

Claudia lachte laut, Mark fiel mit ein.

»Das ist der schönste Schneemann, den ich je gesehen habe. Danke!«

Als dann die Visite kam, schloss Claudia schnell den Deckel und stellte die Tasche auf den Beistelltisch. Die Ärztin erzählte Mark, dass er schon am nächsten Tag nach Haus könnte, es sei denn, er würde gerne im Krankenhaus bleiben. Als sie das sagte, blinzelte sie ihm dabei zu.

»Nein, ich will nach Hause, aber Hubert muss mit.«

»Wer ist Hubert?«, fragte die Ärztin.

Erschrocken blickte Mark zu Claudia, aber sie lachte noch immer.

»Hubert ist mein Schneemann-Freund«, stolz zeigte Mark zur Tasche.

Diese wurde geöffnet und alle bestaunten den kleinen Kerl, der ihnen da entgegen lachte.

»Natürlich geht er mit, das ist versprochen.«

Einen Tag später war der Gips ab und Mark verließ das Krankenhaus an der Seite seines Vaters. Obwohl er noch etwas wackelig auf den Beinen war, hielt er die Kühltasche fest an sich gedrückt. Endlich zu Hause zeigte er Hubert seinen Eltern und sie waren sich schnell einig, der kleine Schneemann sollte einen Platz erhalten, sodass er Weihnachten mit erleben konnte.

So stand Hubert dann kurze Zeit später draußen in der Kälte auf der Fensterbank. Er sah Tag für Tag hinein in das Wohnzimmer und, ich schwöre, als Mark mit seinen Eltern ein wunderbares Weihnachtsfest verbrachte, konnte man ein kleines Lächeln auf seinem Gesicht erkennen.

Die Autorin

Wiebke Worm ist Buchautorin, Illustratorin und Fotografin. Ihr aktuelles Buch trägt den Titel Tom, die Maus. Die pflegende Angehörige kümmert sich außerdem um ihren MS-kranken Mann. Gemeinsam mit Betroffenen und anderen pflegenden Angehörigen hat die ehemalige Crew-Managerin den Sammelband Wir bauen eine Brücke herausgegeben. Über ihre Facebook-Seite Wir pflegen unsere Lieben betreut sie die Aktion Herzensangelegenheiten, die Aufmerksamkeit für die Lebensumstände pflegender Angehöriger schaffen soll. Bei uns schreibt die Autorin in ihrer Kolumne Pflege allein zu Haus über ihren Pflegealltag und gibt nützliche Tipps für pflegende Angehörige und Betroffene.