Armin Rieger: Kampf gegen Bürokratiemühlen

„Pflege-Rebell“ scheitert mit Verfassungsbeschwerde

Personalmangel, Verwahrlosung, Abrechnungsbetrug: Armin Rieger ist überzeugt, dass die Grundrechte von Pflegebedürftigen in deutschen Pflegeeinrichtungen mit Füßen getreten werden. Der 58-Jährige legte Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein.

Pflege-Rebell Armin Rieger fürchtet um die Existenz seiner Pflege-Einrichtung. (Foto: privat)

Sie haben beim Bundesverfassungsgericht eine Beschwerde gegen den deutschen Staat eingereicht. Warum?

Lassen Sie mich vorausschicken: Trotz aller Skandale gibt es auch gut geführte Pflegeheime. In vielen deutschen Pflegeeinrichtungen vegetieren Pflegebedürftige allerdings unter menschenunwürdigen Bedingungen dahin: Geistig fitte Senioren werden mit demenziell veränderten Menschen zusammengesperrt. Bewohner liegen stundenlang in ihren eigenen Exkrementen, weil das Personal nur am Rennen ist und keine Zeit hat, seine Schützlinge auf die Toilette zu begleiten. Heimbetreiber sparen selbst beim Essen, nur um Reibach zu machen. Sie setzen Sicherheit und Wohlergehen unserer Alten aufs Spiel, während der Staat zuschaut. Das ist eine klare Verletzung der Sorgepflicht.

Dabei sind Sie selber nur aus Gier in die Pflege gekommen.

Pflege hat mich früher nie interessiert. Ich war Polizist und später Immobilienmakler. Als verdeckter Ermittler habe ich in ganz Deutschland Drogen gekauft. Dann habe ich im Immobilienboom abgesahnt und 1998 einen Teil der Gewinne in „Haus Marie“ investiert. Damals habe ich nur auf den Profit geschaut. Bis ich festgestellt habe, dass ich Teilhaber am schlimmsten Heim Augsburgs bin.

Welche Konsequenzen haben Sie aus dieser Erkenntnis gezogen?

Wir betreuen heute ausschließlich Demenzerkrankte. Ein Koch richtet täglich frische Mahlzeiten für unsere Bewohner an. Ich habe Haushaltskräfte eingestellt, die waschen und putzen. Und ich beschäftige mehr Pflegepersonal, als der Pflegeschlüssel vorschreibt. So gehen mir zwar Gewinne durch die Lappen, aber ich kann mir morgens beim Rasieren in die Augen schauen.

Außerdem habe ich in Augsburg den Pflegestammtisch organisiert, um auf die Situation in der Pflege aufmerksam zu machen. Erst als ich begriffen habe, dass Politiker parteiübergreifend kein Interesse daran haben, unser Pflegesystem zu verbessern, bin ich vor das Bundesverfassungsgericht gezogen.

Mit welcher Begründung wurde Ihre Klage vom Bundesverfassungsgericht abgelehnt?

Ich habe keine Begründung bekommen. Die erste Kammer des Bundesverfassungsgerichts hat mir in drei Zeilen mitgeteilt, dass meine Klage unzulässig sei und Widerspruch nicht möglich ist. Das war ziemlich enttäuschend, aber nicht überraschend. Die Richter haben im Sinne der großen Träger, der Lobbyisten und der Politik entschieden.

Was ist Ihrer Meinung nach das Hauptproblem in der Pflege heute?

Das Geld, das in die Pflege fließt, kommt nicht bei den Pflegebedürftigen an. Sowohl börsennotierte Unternehmen als auch Wohlfahrtsverbände verdienen Milliarden mit Alten und Kranken. Und zwar auf Kosten des Pflegepersonals. Gesetzliche Pflegeschlüssel führen dazu, dass in manchen Heimen nachts eine Pflegekraft 60 bis 80 Menschen versorgt. Und um Personal zu sparen, verdonnern Arbeitgeber Pflegekräfte zusätzlich zum Kochen oder Putzen. Alles nur, um mehr Gewinn rauszuschlagen.

Was würden sich ändern, wenn Sie Gesundheitsminister wären?

Deutschland braucht eine echte Pflegereform. Aber die wird es nicht geben, solange unsere Politiker parteiübergreifend die Interessen der Lobbyisten vertreten und die Profiteure bei Gesetzesentscheidungen mit am Tisch sitzen.

Und ich würde den Pflege TÜV abschaffen. Einrichtungen heimsen trotz Pflegefehler Bestnoten ein. Wenn Pflegekräfte Bewohner falsch lagern, entstehen Dekubiti. Die Betroffenen liegen sich wund. Das Pflegepersonal begeht also Körperverletzung. Trotzdem erteilt der TÜV gute Noten, solange die Dokumentation stimmt.

Wie sähe Ihre Alternative aus?

Nicht die Kommunen oder die Krankenkassen, sondern unabhängige Beobachter sollten Pflegeheime bewerten. Und zwar nicht nach Kriterien, die sich Träger und Wohlfahrtsverbände ausgedacht haben. Sondern danach, ob sich die Bewohner dort wohlfühlen.Wie sich das realistisch umsetzen ließe, weiß ich nicht. Die großen Akteure haben kein Interesse an Veränderung. Für konkrete Lösungsvorschläge zur Beseitigung der Pflege- Kungelei fehlt mir deshalb mittlerweile die Hoffnung.

Was sind Ihre Pläne für die Zukunft? Werden Sie weiter rebellieren?

Ich prüfe, ob ich vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehe. Allerdings habe ich derzeit andere Probleme: Nach bayerischem Pflege-und Wohnqualitätsgesetz gilt „Haus Marie“ nicht länger als barrierefrei. Dass sich die Menschen wohlfühlen und jeden Tag frisch gekochtes Essen bekommen, spielt keine Rolle. Nur der korrekte Abstand zwischen Waschbecken und Dusche zählt. Jetzt wird es mein Heim nur noch maximal 15 Jahre geben.

Armin Rieger ist seit 1998 Einrichtungsleiter des Pflegeheims „Haus Marie„. Der ehemalige Polizist löste bundesweiten Medien-Trubel aus, als er 2013 den Pflege TÜV boykottierte. Mit seiner Aktion wollte der „Pflege-Rebell“ aufzeigen, dass der Pflege TÜV nicht die Pflege, sondern die Dokumentation bewertet. Wichtig für gute Noten ist nicht, was Pflegebedürftige aufgetischt bekommen, sondern dass der Speiseplan in Schriftgröße 14 auf Augenhöhe aufgehängt wird. Der Boykott kostete „Haus Marie“ die Bestnote. Obwohl sich in der Pflege nichts geändert hatte, stufte der Pflege TÜV das Haus auf die Note 3,6 ab. Zum Vergleich: Der Notendurchschnitt liegt bei 1,2. 2014 zog der 58-Jährige das erste Mal vor das Bundesverfassungsgericht, um gegen katastrophale Zustände in deutschen Pflegeeinrichtungen Einspruch zu erheben. Die Klage wurde abgelehnt, weil Armin Rieger nicht selbst betroffen war. Riegers Widerspruch wiesen die Richter 2016 endgültig zurück.