Arbeit im Hospiz: Wie geht Sterben?

Die eigene Welt und Schönheit des Todes

Sterbebegleiter sind wichtig für Menschen am Lebensende. Denn oft wohnt die Familie zu weit weg, um sie bis in den Tod zu begleiten. Foto:Fotolia

Sie kann die Stille in vollen Zügen genießen. In der Arbeitswelt umtriebig wie eine Biene, ist Marianne Hertle in ihrer Freizeit auf Ruhe und Reflexion bedacht. Sei es beim Kochen, in der Natur, beim Lesen und Joggen und vor allem, wenn sie wochenends Dienst im Hospiz hat.

Alltag einer Frau im industrienahen Handwerk

Eigentlich ist die 59-Jährige Produktmanagerin und Vertrieblerin beim Elektrotechnik-Unternehmen Riempp in Oberboihingen nahe Stuttgart. Die Industrieservicegruppe vertreibt mit ihr vorneweg ein Energiemanagementsystem für Bestandsgebäude namens emsyst 4.0., inhaltlich und namentlich angelehnt an die Industrie 4.0. Die Männer- und Elektrotechnik-Welt ist komplex und umtriebig, der Terminkalender voll.

Fundamentale Frage

Das stört Hertle nicht weiter. Die alleinerziehende Mutter und gelernte Unternehmensberaterin hatte schon immer mehr Energie als die meisten. Und schon früh interessierte die grundsätzlich neugierige Frau eine Frage: Wie funktioniert das Sterben? Sie sah diesen Prozess bei ihren eigenen Eltern, die sie Zuhause pflegte, von nahem. Doch ansonsten geschieht das Sterben abgeschirmt von der Öffentlichkeit in Krankenhäusern oder im Pflegeheim.

Kultursache?

„Früher war das nicht so. Da haben mehrere Generationen zusammengewohnt. Auch etwa in Afrika ist das Sterben und öffentliche Trauern viel normaler. Wer hier auf der Straße laut weint, wird eher schief angeschaut. Das hat wohl auch mit unserer säkularen, westlichen Kultur zu tun, dass wir uns vom Tod und von fundamentalen Dingen so entfremden“, meint Hertle.

Am Ende nahe

Früher begleiteten Menschen ihre Angehörigen oder Freunde in den Tod. Damals, als die Kirchen den Prozess des Sterbens gestalteten und dem Tod einen Sinn gaben. Es gehörte zu den Pflichten eines Christen, sich der Sterbenden anzunehmen. Die Familie kannte tröstende Gebete und der Pfarrer sollte nach ungeklärten Vergehen forschen.

Der Tradition abgesagt

Die moderne Intensivmedizin hat die Dauer des Sterbens drastisch verlängert und den Tod als Ereignis beinahe abgeschafft – und damit auch das Wissen um die Tradition. Dabei wollen die meisten zu Hause sterben. Aber in den Familien weiß kaum noch einer, wie das funktioniert.

Umgang mit dem Tod ist Training fürs Leben

Wie Streben geht, entdeckte die Schwäbin bei ihrer Ausbildung zur Hospizhelferin. „Ich freue mich immer wieder über diese Entscheidung“, sagt sie. Seit einem Jahr ist sie Sterbebegleiterin. Im schwäbischen Esslingen arbeitet sie am Wochenende immer vier Stunden im Hospiz. Gerne würde sie die Sterbenden auch ambulant betreuen, doch das ist mit dem Beruf schwer zu vereinbaren.

Ausbildung zur Sterbebegleitung

Wie jedes Hospiz führt auch das Esslinger Hospiz eine Warteliste. Ein freier Platz wird an den vergeben, der ihn am dringendsten braucht. Und jeder Ehrenamtliche verbringt in 4-Stunden-Schichten die vielen, oder manchmal wenigen, letzten Stunden mit den Kranken. Das bedeutet zum Beispiel

  • Spezielle Sachen einzukaufen
  • das Handyguthaben aufzuladen
  • ein bisschen Ablenkung zwischen Fernsehen und Abendessen
  • letzte Wünsche erfüllen: Wie noch einmal auf die Burgruine der Kindheit oder den Bruder besuchen, um sich zu versöhnen.

Kein Frontalunterricht, sondern Ausrümpeln

Oft können Sterbende sich schwer artikulieren. Die gleiche Frequenz suchen und eintauchen in deren Welt – das lernte Marianne Hertle in ihrer Ausbildung. Mit einer  Emotionsrunde wird jedes Ausbildungsseminar eröffnet und beendet. Dabei berühren viele Aussagen von Manchen, einen wunden Punkt der Anderen. So füllen Erzählungen über verlorene oder ungeborene Kinder, traumatische Trennungen, Familienverhältnisse oder Krankheiten den Raum. Eine Menge Rollenspiele gehören zum Programm und Filme, in denen es um Sterben, Tod und Trauer geht.

Zurückhaltend, doch stark präsent sein

Ziel ist es, eine Ahnung davon zu bekommen, welche Prozesse Sterbende durchmachen. Dazu gehört es, schweigen, nicht alles auf sich zu beziehen und sich selbst zurücknehmen zu lernen. Also das Gegenteil von dem, was eine Frau in einer von Männern dominierten Arbeitswelt wie der Elektrotechnik tut. Wichtig ist zudem das Thema Intimität und Grenzen. Denn diese definiert jeder Mensch anders. Das Erkennen der Grenzen eines Sterbenden ist eine wichtige Fähigkeit.

Unsichtbare Grenzen sehen

Hertle und ihre Ausbildungskollegen lernten das etwa mit einer Übung, in der sie Körperzonen farbig markierten. Bunt wurde, wo sie sich von fremden Menschen auf keinen Fall berühren lassen wollen. Punkt dabei war dann, die verschiedenen Sichtweisen nicht zu bewerten: Eine Schule der Vorurteilslosigkeit.

Stabil und projektionslos

Warum das Innere nach außen kehren, bevor man in ein Sterbezimmer geht? Hertle weiß mittlerweile: „Ein Sterbender spürt schnell, ob sein Gegenüber echt ist und Ängste hat. Und am Lebensende kann man es erst recht nicht mehr gebrauchen, wenn jemand die eigenen Sorgen auf einen projiziert. Deshalb ist es wichtig, als Sterbebegleiter psychisch stabil zu sein. Nur so kann ich dem Anderen unbefangen begegnen.“

Das Hospiz Esslingen und dessen Förderverein sucht wie alle Einrichtungen dieser Art neue Unterstützer. Auch Marianne Hertle ist Fördervereinsmitglied und freut sich sehr, neue Gesichter zu treffen.